
Not Old Enough
Es ist nie zu spät für gar nichts: Mit Ende 60 legt der großartige Folk-Songschreiber, -Sänger und -Gitarrist Chris Wenner sein bisheriges Meisterwerk vor. Das am 24. Januar 2025 erscheinende „Not Old Enough“ ist durchflutet von der Energie des Laurel Canyon und den Geschichten eines segensreichen Lebens. Für Wenner ist sein drittes Album die Erfüllung eines lebenslangen Traums. Wir sollten ihm zuhören.
Nehmen wir für einen winzig kleinen Moment an, es ginge im Pop einmal nicht um vermeintliche Branchengesetze, von der Musikindustrie aufgestellte „Regeln“. Nehmen wir weiterhin an, das Wichtigste an Musik seien ausnahmsweise tatsächlich nicht Followerzahlen, TikTok-Fame, Jugend, Style, Zeitgeist, sondern, nun ja: die Musik.
Verrückte Überlegung, klar. Wir wollen hier auch niemanden gegeneinander ausspielen, Jugend vs. Alter oder was auch immer: sollen andere machen. Bisweilen kann es indes reizvoll sein, den gelernten Fokus minimal zu verschieben, man sieht dann gleich viel besser. Denn es ist ja so: Die besten Geschichten kommen meist von Leuten, die eine Geschichte haben.
Der Songschreiber, Sänger und Gitarrist Chris Wenner hat nicht nur eine, sondern mehrere Geschichten. Das hört man seinem dritten Studioalbum, „Not Old Enough“, an. In den Texten, aber auch durch die Art und Weise, wie Wenner diese Lieder singt und spielt: Chris Wenner hat etwas zu erzählen, womöglich gar zu sagen, aber laut ist er nicht. Sondern er spielt diese warmherzigen, raumgreifenden Kleinode mit der Zugewandtheit, Emotionalität und Intensität dessen, der sich und anderen nichts mehr beweisen muss.
Man muss sich den 68-jährigen Wenner vielleicht ein bisschen wie eine deutsche Variante von Sixto Rodriguez vorstellen, allerdings ohne das Drama. Im Gegensatz zu Rodriguez ist Wenner allerdings kein spät Wieder-, sondern ein Jetzt-überhaupt erst-Entdeckter. Dabei schreibt er seit den frühen Siebzigerjahren Songs und singt sie mit dieser einmaligen Stimme, die einen in den Arm nimmt, die Wärme und Trost vermittelt und zum treuen Begleiter wird.
Chris Wenner ist schon früh Musikenthusiast. Er besucht damals Konzerte von Jethro Tull und 1974 mit 18 die letzte Show von Crosby, Stills, Nash & Young in Europa (mit Joni Mitchell und The Band) im Londoner Wembleystadion. Damals, in seiner ersten Geschichte, leiht Wenner sich im Alter von 15 Jahren eine Gitarre von einem Nachbarn und es ist um ihn geschehen. Im Wesentlichen brachte sich Wenner das Gitarrenspiel selbst bei. Zu Beginn gab es allerdings – in den Schulpausen – ein paar Mal Unterricht beim damaligen Scorpions-Gitarristen und Mitschüler Uli Jon Roth.
Wenner liebt den Folk des Laurel Canyon, die alten amerikanischen Stile, die man heute zumeist als Singer-Songwriter subsummiert. Noch vor dem Abi gründet er eine Band mit einem befreundeten Musiker amerikanisch-mexikanischer Abstammung. Sie schreiben Songs, spielen Konzerte, dann kommt Wenner immer mehr das Leben dazwischen. Der Freund geht zurück nach Amerika. Wenner beginnt ein Jurastudium.
„Musik war eigentlich das einzige, das mir wirklich etwas bedeutete. Ich hatte nach dem Studium absolut keine Ahnung, was ich machen sollte“, sagt Wenner. „Nach der mündlichen Prüfung hat mein Professor mich dann aber gefragt, ob ich bei ihm arbeiten wolle.“
Drei Jahre ist er daraufhin an der juristischen Fakultät der Uni Bonn. Parallel macht er weiter Musik, arbeitet auch an Produktionen mit einem Kölner Produzenten, aber zu einer Veröffentlichung kommt es nicht. „Damals gab es in Köln so eine Musikermafia“, erinnert sich Wenner. „Alles lief über Ferdy. Wer Musiker für Aufnahmen buchen wollte, musste über ihn gehen, sonst gab es Ärger.“
Es beginnt die zweite Geschichte des Chris Wenner: „Ich bin dann eher zufällig Anwalt geworden“, sagt er. „Eigentlich wollte ich Richter werden, aber dann kam ein Angebot von einer Kanzlei, in der ich in meinem bevorzugten Fachgebiet arbeiten konnte, dem Internationales Privatrecht.“
Wenner arbeitet als Wirtschaftsanwalt, gründet später mit anderen die bundesweit tätige Wirtschaftskanzlei GÖRG Rechtsanwälte, die jetzt zu den größten Kanzleien Deutschlands gehört. Außerdem gründet er eine Familie, drei Töchter hat er, inzwischen ist er außerdem zweifacher Großvater.
Songs hat er in all den Jahren immer geschrieben: „Das hängt bei mir mit der emotionalen Verfassung zusammen“, sagt Wenner, „wenn ich Probleme habe, schreibe ich schnell mal ein Lied.“ Die Musik bleibt in diesen Jahrzehnten ein Hobby, wenngleich ein sehr wichtiges.
Erst in seinen letzten Berufsjahren geht Wenner die Sache noch mal etwas ernsthafter an, mit dem Produzenten Matthias Krauß beginnt er damals mit der Arbeit an einem Album. Mit 64 geht er in Rente, bald darauf erscheint das erste Album auf dem Label des ehemaligen Herbert-Grönemeyer-Schlagzeugers Detlef Kessler. Es heißt „A New Born Man“, einen treffenderen Titel hätte es nicht geben können. Zwei Jahre später veröffentlicht Chris Wenner ein weiteres Album, das 2022 erschienene „Maywind“, mit dem er weltweit für Aufmerksamkeit sorgt. Wenners Musik wird damals in zahlreiche Radioplaylisten aufgenommen, allein sein Song „Sunchild“ insgesamt fast drei Millionen Mal gestreamt.
Damit sind wir in der Gegenwart, und in dieser gibt es eine weitere ziemlich einmalige Geschichte zu erzählen: Chris Wenner hat sich inzwischen ein Studio in seinem Haus eingerichtet und auf der Suche nach Recording-Equipment für dieses Studio erblickte er vor einigen Jahren einen Preamp auf eBay, den er gerne kaufen wollte. Er tauschte mit dem Anbieter ein paar Nachrichten aus, und eines Tages stand der Mann bei Wenner in Bonn vor der Haustür.
Es handelte sich um niemand geringeres als den Produzenten Philipp Hoppen. Unter seinem Spitznamen Philsen hat Hoppen Alben von Die Ärzte, Kraftklub und Feine Sahne Fischfilet aufgenommen. Nun freundeten sich die beiden scheinbar so unterschiedlichen Männer spontan miteinander ab und es wurde bald vereinbart, das nächste Chris-Wenner-Album gemeinsam aufzunehmen.
Über beinahe drei Jahre entstand so zwischen Bonn und Berlin das bisherige Meisterwerk des Chris Wenner, „Not Old Enough“. Man denkt an den späten Paul McCartney, an Tom Petty, Fleetwood Mac oder The Band in dieser reichhaltigen, wehmütigen, zum Niederknien schönen Musik. Soft Rock, Folk und der Spirit des Laurel Canyon prägen eine beeindruckende Kollektion von 14 Songs, die Philsen transparent und von einer tiefen analogen Wärme durchzogen eingerichtet hat.
Die Chöre sind kongenial gesetzt, unaufdringlich schmiegen sie sich um die Leadstimme. Wenners Fingerpicking im „Blackbird“-Beatles-Stil verströmt eine unaufgeregte Gelassenheit. Überhaupt ist der Musiker Chris Wenner kaum vereinbar mit dem Bild, das man klischeehaft über Anwälte im Kopf haben könnte. Nichts an diesen fragilen Pop-Kleinoden ist kühl, pragmatisch, technokratisch, sie alle flimmern vor Wärme, sind hingebungsvoll, strahlend.
Geschrieben hat Chris Wenner diese Songs auf Gitarre oder Klavier. Einige von ihnen sind Jahrzehnte alt, andere entstanden während der Produktion, sie alle ergänzen sich kongenial. „Ich habe Fragmente, die bestimmt schon seit 30 Jahren bei mir herumliegen“, sagt Wenner. „Irgendwann kommt dann plötzlich die entscheidende Idee und ich schließe sie ab. Manche aber sicher auch nie.“
So entstand auch das wunderbar sonnendurchflutete, versöhnliche Klavierstück „May You Always Shine“. Vor vielen Jahren hatte Wenner auf einer Reise ein Schild im südkalifornischen San Juan Capistrano gesehen, auf dem stand: „Shine your light.“ Das war der Anfang, der Spruch ließ ihn nicht mehr los. Später wurde es ein Song über die Trennung von seiner Frau und was das für die Familie bedeuten würde. Es ist ein Liebes- und ein Abschiedslied geworden: „May you keep your smile, stay a long long while, may you always shine“, singt Wenner in einem großen, alles umarmenden Refrain.
Im Titelsong, „Not Old Enough“, erinnert Wenner ein bisschen an den Neil Young der frühen Siebzigerjahre, wenn er wehmütig, aber ohne Reue zu einem geradlinigen Beat eine Erkenntnis gewinnt: „All the things that we have had, all the things we have not said, a rainy cloud above my head/I‘m not old enough, I’m not old enough for love“.
„Something Going On“ ist ein wunderbar einfühlsames Lied über einen alten Mann, dem es zunehmend schwerfällt, Kontakt zu seiner Umwelt herzustellen, das fragile „Too Bad“ ist eine wehmütige Klavierballade. „Sands of Time“ erinnert in seiner traumwandlerischen Souveränität an Steely Dan, „Too Many People“ entstand auf einem Spaziergang durch die überfüllte Bonner Innenstadt und spinnt den Bogen zu einer zivilisationskritischen Abhandlung über Umweltzerstörung und Überbevölkerung.
Besonders berührend gerät „Skin on Skin“, jene weihevolle, mächtige Moll-Klavierballade über die besondere Energie zwischen zwei liebenden Menschen. „We find our souls echoing, I can feel the way you’re feeling”, singt Wenner mit dieser sanft hingetupften Stimme, die Trost vermittelt und einen umarmt und in deren Harmonien man endlos versinken kann.
Die Rockmusik und die Weite des Folk der US-amerikanischen Westküste atmet dann vor allem „Mexicali“. Wer für einen Moment inne hält, sieht vor dem geistigen Auge jenes ganz spezielle Licht der Baja California und imaginiert einen in Sepiafarben getauchten Sonnenuntergang. Sein „Mexicali bro from Northern Mexico“ aus dem Song ist natürlich eben jener US-amerikanisch-mexikanischer Musiker, mit dem vor über 50 Jahren alles angefangen hatte. In einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit.
Der Kreis hat sich geschlossen. Die Songs von damals bleiben gültig, der Traum des Chris Wenner hat sich erfüllt. Es ist nie zu spät für gar nichts, Chris Wenner ist immer noch „Not Old Enough“.
Tracks
Too Bad | 04:19 | |
Something's Going On in the House | 04:11 | |
Too Many People | 03:03 | |
Undone | 03:34 | |
May You Always Shine | 03:30 | |
Not Old Enough | 03:58 | |
Skin | 03:51 | |
Mexicali Bro | 04:20 | |
I Can Make My Life Rerun | 05:08 | |
Sands of Time | 03:37 | |
Tic Tac Toe | 04:40 | |
Old Love | 03:35 | |
Late for the Sunset | 02:08 | |
Too Bad (Piano Version) | 05:10 |